Zug um Zug zur Geisterbahn

Computergesteuerte Züge sollen den Bahnverkehr flexibler und den Lokführer überflüssig machen.

Dresden - Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, fahren schon heute einzelne Stadt- und U-Bahnen ohne Lokführer. Ein Computer navigiert die Züge vollständig automatisch, etwa die Metros von Paris und Lille und den SkyTrain in Vancouver, Kanada. Bei diesen geschlossenen Linien, die entweder in einem engen Tunnel oder hoch in der Luft verlaufen, funktionniert das ohne Probleme. Beim offenen Schienennetz der Eisenbahn wird es jedoch problematisch. Was macht ein « blinder » Computer, wenn eine Kuh ihre Diät durch etwas Gras bereichern will, das zwischen den Schienen wächst, ein Autofahrer zwischen zwei Schranken stecken bleibt oder gar Kinder das Bahntrassee zum Spielplatz erklären ?
Forscher des Fraunhofer Instituts für Verkehrs - und Infrastruktursysteme (IVI) in Dresden wollen die Lokführer daher nicht durche blinde, sondern durche sehende Computer ersetzen. Leistungsfähige Videokameras und Radar sollen Hindernisse auf den Gleisen oder am Perron auch bei Nacht und schlechter Sicht zuverlässig erkennen und gegebenenfalls eine Reaktion auslösen, sei es ein Hupsignal oder eine Zwangsbremsung.
« Der Bedarf für die Automatisierung ist gross », sagt Wolfgang Oertel vom IVI. « Im Mittelpunkt steht allerdings nicht die Einsparung des Zugführers, sondern ein flexiblerer Bahnverkehr. » Weg vom starren Fahrplan, lautet die Devise, um den Bedürfnissen der Kunden näher zu kommen. So sollen in Stosszeiten oder bei einer Grossveranstaltung rasch mehr Züge eingesetzt werden, in verkehrsschwachen Zeiten dafür weniger. « Das ist nur durchzuhalten, wenn man automatisch fährt, also Fahrzeuge vom Depot einfach abrufen kann », sagt Oertel.
In Deutschland fahren die ICE-Züge heute schon fast von selbst, sagt Christine Geissler-Schild von der Deutschen Bahn. Die ICE-Strecken haben einen Linienleiter im Gleis liegen, über den der Lokführer den Zustand der Signale auf den nächsten zehn Kilometern mitgeteilt bekommt. Im Jahr 2004 sollen die Schnellstrecken in der Schweiz, etwa zwischen Bern und Zürich, mit einer ähnlichen « Führerstandsignalisation » ausgerüstet werden. Aber noch brauchen die Züge die Führung durch den Lokführer.
Das IVI-Projekt, das vom deutschen Bundesforschungsministerium gefordert wird, geht einen Schritt weiter. Da der menschliche Triebwagenführer ersetzt werden soll, sind die Ansprüche an Technik und Software sehr hoch. « Das System muss bei voller Fahrt ein 40 mal 100 Zentimeter grosses Hindernis in einer Entfernung von bis zu 300 Metern erkennen können », sagt Oertel.
Was die Gleisüberwachung betrifft, wird der Computer dem Menschen überlegen sein. Zudem kann Radar auch durch Nebel Hindurchschauen und Gegenstände bei Nacht erkennen. Auch ist die Reaktionszeit des digitalen Lokführes mit rund einer Zehntelsekunde kürzer als beim Mensch. Dafür ist der Zugführer aus Fleisch und Blut laut Oertel mit seinem Hintergrundwissen und Erfahrungsschatz dem Computer noch voraus.

Noch würden sich viele weigern, einen führerlosen Zug zu besteigen.
Sind die Prototypen zur automatischen Hinderniserkennung, Bahnsteigüberwachung und Absicherung bei technischen Defekten entwickelt und getestet, geht es ab 2002 um die konkrete Anwendung auf der S-Bahnstrecke Dresden-Prina. Im Jahr 2004 wollen die Entwickler dort den ersten vollantomatischen Zug auf die Strecke schicken. « Die Arbeiten sind jedoch nicht auf den S-Bahn-Bereich beschränkt », sagt Oertel.
Die Vorstellung, einmal in einem führerlosen ICE mit 300 Kilometern in der Stunde durch die Gegend zu rasen, ist sicher gewöhnungsbedürftig. « Im Fernverkehr würden sich wohl viele Leute weigern, in einen führerlosen Zug einzusteigen », sagt Jean-Louis Scherz von der SBB. Daher müssen auch die psychologischen Barrieren der Fahrgäste überwunden werden, damit das IVI-Projekt Erfolg hat. Sonst ist der Zug am Ende nicht nur führer-, sondern auch fahrgastlos.

SonntagsZeitung, 10. September 2000, Joachim Laudenmann